DIE BILKER STERNWARTE
1870

Ein Auszug aus
"Bilk vom Mittelalter bis zum Internet"

Nachdem es die Kinder offensichtlich ins 19. Jahrhundert verschlagen hatte, mussten sie sich wieder erst einmal neu orientieren. Schon wieder sah alles ganz anders aus: Neue Häuser, neue Straßen, neue Leute.

Weil ihnen nichts Besseres einfiel, gingen Valon, Anuschka, Felix und Kilian mehr oder weniger ziellos durch die Stadt, möglichst unbemerkt von den übrigen Passanten.

Plötzlich stand es vor ihnen: ein seltsames Haus, das kaum Fenster hatte, dafür aber ein großes Teleskop, das im Schein der Abendsonne einen langen Schatten auf die Umgebung warf. Wie gelähmt, mit offenen Mündern standen die Kinder da und schauten erschrocken nach oben. Nur zwei oder drei Sekunden standen sie so da wie Eisklötze, während die Gedanken mit der mittleren Geschwindigkeit eines Interrapidzuges durch ihre Köpfe rasten. Ein Ungeheuer? - Ein Ufo? - Ein Hexenhaus?

"Eine Sternwarte!", rief Valon schließlich.

"Tatsache!"

"Das muss die berühmte Bilker Sternwarte sein. Haben wir neulich in Heimatkunde gepaukt!"

"Hm... die habe ich mir viel größer vorgestellt."

"Mir ist sie groß genug. Bin ich gerade erschrocken!" Die vier wandelten um das Gebäude herum und betrachteten sie ganz genau.

"Mich würde interessieren, wie sie von innen aussieht."

"Bist du verrückt?!"

"Nein. Und du?"

"Wie willst du denn in die Sternwarte kommen?"

"Durch dieses Loch zum Beispiel!" Triumphierend zeigte Felix auf ein Stück Mauer, das nicht mehr vorhanden war.

"Geht nicht! Geht nicht!", jammerte Valon. "Da komm ich nicht durch mit meiner Wampe!"

"Ach nee?"

"Ach ja!"

"Also, so wie ich das sehe, hast du in letzter Zeit ganz schön abgenommen." Unwillkürlich guckte Valon an sich hinunter.

"Wie? Was?"

"Tja, hier in der Computer-Vergangenheit gibt's eben keine Bratbuden mit halbem Hahn, Pommes, Currywurst, Frikadellen..."

"Igitt! Wenn schon, dann bitte Pizza oder Spaghetti oder..."

"Komm Valon! Felix ist schon längst durch das Loch." Nacheinander zwängten sich die drei übrigen durch die Öffnung und plumpsten auf den kahlen Steinfußboden eines Kellerraumes. Durch das kleine Loch fiel gerade genug Licht, dass sie erkannten, dass dieser Raum zur Zeit offensichtlich nicht genutzt wurde. Bis auf eine eisenbeschlagene Holztür war nur nackter Stein zu sehen.

"Ist irgendwo ein Lichtschalter?"

"Ich glaube, die Glühbirne wird erst in ein paar Jährchen erfunden!"

"Mist!" Schon hatte Anuschka, die zusammen mit Felix schon immer die Vorwitzigste der Gruppe gewesen war, ihre Hand auf die eiserne Türklinke der Holztür gelegt. Kalt war sie und rau. Vorsichtig drückte Anuschka die Klinke herunter. Sie quietschte, als wäre sie seit Jahren nicht mehr benutzt worden. Und auch die Tür selber knarzte entsetzlich, als sie sich in den Angeln drehte. Eine riesige Staubwolke ging nieder. Es wurde ausgiebig geniest.

"Hatschi! So ein Mist - wenn uns jetzt jemand gehört hat?"

"Na, hoffentlich nicht! Aber hier sieht es ja nicht gerade belebt aus!" Die vier standen jetzt vor einer Wendeltreppe, die inmitten eines kleinen, runden Raumes nach oben führte. Die Freunde sahen sich kurz an und huschten dann, einer nach dem anderen, die Treppe hoch, die in einem Loch in der Decke verschwand. Sie landeten jetzt in einem ähnlichen kreisrunden Raum, der aber etwas größer war und einige Fenster besaß - allerdings sehr kleine. Das Geländer der Wendeltreppe hatte hier eine Lücke, durch die sie hätten absteigen können - stattdessen entschlossen sie sich dafür, weiter nach oben zu gehen. Im ersten Stock des Treppenhauses waren aber wiederum nur zwei Türen zu sehen.

"Von hier aus müssten wir eigentlich gleich ins Observatorium kommen."

"Was ist das denn? Obsi... Osib... servo..."

"Ob-ser-va-to-ri-um! Das ist der große Raum einer Sternwarte, in dem das große Fernrohr steht."

"Welche Tür ist wohl die richtige?"

"Probieren geht über studieren!" Mit diesem Motto hatte Felix schon oft Erfolg gehabt. Er riss eine der beiden Türen auf, stürmte herein - und fand sich in einem Regen von herabsegelnden Papieren wieder.

"Mist!"

"Was hast du denn jetzt wieder angestellt?", fragte Kilian im Ton eines gestressten Kindergärtners.

"Sagt er doch - Mist!" Anuschka, Valon und Kilian betraten jetzt auch den Raum, in dem Felix völlig verdattert inmitten eines Haufens aus wirr durcheinander liegenden grauen Bögen stand.

"So ein Chaos! Was machen wir denn jetzt?"

"Der Besitzer dieser Sternwarte wird nicht gerade erfreut sein..."

"Was sind das denn eigentlich für komische Blätter?"

"Striche... Kreise... Zahlen... geometrische Koordinaten..."

"Sieht ja ungeheuer wichtig aus!"

"Für einen Professor der Astronomie schon."

"Ich wiederhole mich nur ungern: Was machen wir jetzt?"

"Das ganze Chaos hier wieder in Ordnung bringen, würde ich sagen."

"Das ganze Chaos? Das haben wir doch nicht angerichtet!"

"Stimmt! Nur die paar durcheinandergewirbelten Blätter."

"Und wir wissen nicht mal, wo sie vorher gelegen haben. Wenn der Chef hier auch sonst so unordentlich ist, wird ihn das nicht weiter stören."

"Trotzdem sollten wir verduften. Draußen wird es schon dunkel. Wir sollten uns einen Schlafplatz su..."

Wie ferngesteuert fuhren die vier plötzlich genau gleichzeitig herum. Im Schein einer trüben Petroleumfunzel stand im Türrahmen ein älterer Mann im Frack. Er hatte eine ordentliche Dreiviertelglatze, dahinter schneeweiße Haare, einen Bart in derselben Farbe und lustig funkelnde Augen.

Die ganze Gesellschaft stand da - wie zu Eis erstarrt. Nach etlichen Zehntelsekunden, Sekunden oder sogar Minuten brach der befrackte Herr das Schweigen.

"Wie seid ihr hier hereingekommen?" Sein Tonfall ließ darauf schließen, dass er streng wirken wollte, aber gar nicht so recht konnte.

"Wir... wir sind durch ein Loch hereingeklettert... in der Mauer!"

"In der Mauer? Ach ja... das verflixte Loch, das schon der gute Benzenberg stopfen wollte und nie dazu gekommen ist..."

"Wer?"

"Freche Göre", brummte der Unbekannte mehr belustigt als zornig in seinen Bart, "Johann Friedrich Benzenberg! Das muss man doch wissen! Er lebte von 1777 bis 1846, war Professor der Astronomie und hat diese Sternwarte erbaut! Einige Jahre war er hier der Direktor - und ich bin sein Nachfolger. Ich, Karl Theodor Robert Luther. - Und wer seid ihr?"

"Ach ja, Entschuldigung. Ich heiße Kilian. Das ist Anuschka..."

"...ich heiße Valon..."

"...und ich bin Felix."

"Und... woher kommt ihr? Ich meine - ihr seid so merkwürdig angezogen... und überhaupt, was habt ihr in einer Sternwarte zu suchen?"

Nun mussten sie dem Direktor doch ihre Geschichte erzählen. Es dauerte lange, bis dieser ihnen endlich halbwegs glaubte.

"Verrückte Geschichte. Was es nicht alles gibt. Also, ihr wollt tatsächlich die Geschichte von Bilk erleben?" Die vier nickten eifrig.

"Also dann - kommt mal mit." Der Astronom schmunzelte geheimnisvoll und verließ das Zimmer. Anuschka, Felix, Valon und Kilian folgten ihm gespannt ins Treppenhaus und über die Wendeltreppe noch ein Stockwerk höher. Jetzt gab es noch einmal etwas zu staunen: In einem fensterlosen, nicht allzu großen, aber dennoch beeindruckenden Raum, an dessen Wänden überall große Sternenkarten hingen, stand das große Fernrohr. Die Kinder betrachteten es von allen Seiten.

"Können wir mal durchgucken?"

"Ja, warum nicht? Ich stelle das Teleskop jetzt ein." Herr Luther begann an Rädern zu drehen und Hebel zu verstellen. Das Teleskop bewegte sich, und schon hatte Valon sein Auge am Okular.

"Toll! Das ist ja super! Hier sieht man ja viel mehr Sterne als sonst!"

"Lass mich auch mal gucken!"

"Mich auch!"

"Tja, so ein Teleskop ist schon eine fantastische Sache. Ich habe damit übrigens schon 22 Planetoiden entdeckt. Das sind sozusagen ganz kleine Planeten, die ellipsenförmig um die Sonne kreisen. Hier auf dieser Sternkarte sind alle eingezeichnet. Und einen kannst du jetzt sogar durch das Fernglas sehen."

"Tatsache! Toll!"

"Aber... ich sehe hier zwei solche Dinger!"

"Zwei?"

"Links oben. Da ist noch einer aufgetaucht! Haben Sie den auch entdeckt?"

"Nein! Der ist völlig neu! Der ist auf keiner Karte zu finden. Das kann doch nicht wahr sein..."

"Hey! Was war das denn?"

"Was meinst du?"

"Der Planetoid - der hat eben grün geschimmert!"

"Grün geschimmert? Das kann doch nicht sein."

"Doch! Ich sehe es auch! Ganz deutlich - ein grüner Schimmer..." Nun kam der Sternwartendirektor mit einigen geometrischen Instrumenten und einem großen Papierbogen herbeigeeilt.

"Na, so was... ihr habt tatsächlich einen Planetoiden entdeckt! Die ganze Zeit ist er mir sozusagen vor der Nase herumgeschwirrt, und ich habe ihn nie bemerkt. Herzlichen Glückwunsch!"

"Wir haben den entdeckt?!"

"Ist ja 'ne ultraklassische hypercoole Megasache!"

"Was die Jugend heute für Wörter beherrscht...", schmunzelte der Sternwartendirektor, während die vier Freunde gar nicht mehr zu halten waren, im Observatorium herumtanzten und kreischten vor Freude. Auch Karl Theodor Robert Luther freute sich wie ein Schneekönig über die Entdeckung seiner Gäste und beugte sich mit seinen Instrumenten über den Papierbogen, um den Planetoiden einzuzeichnen. Den seltsamen grünen Schimmer vergaßen sie alle darüber – sie sollten aber noch früh genug davon erfahren.

 

aus: Bilk vom Mittelalter bis zum Internet
© Monika Egbringhoff
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